Siebzehn Menschen kaltblütig von zwei Terroristen ermordet. Öffentliche Enthauptungen durch die Terrormiliz ISIS. Ein andauernder Konflikt in der Ostukraine. Ein nie endender Konflikt im Nahen Osten. Keine Ruhe in Afghanistan und im Irak. Und Afrika?! Sprechen wir besser nicht darüber.

Gewalt scheint zuzunehmen.

Scheint. Und frage ich Freunde und Bekannte, dann bestätigen sie diese Überzeugung. Alle glauben, dass unsere Welt immer gewalttätiger wird.

Und die Wahrheit?

Unsere Welt wird immer friedlicher.

Stop! Hier stimmt etwas nicht. Schaue ich denn keine Nachrichten? Doch.

Woher dann die Aussage, dass unsere Welt friedlicher wird?!

Ganz einfach: Fakten.

Während ich die Entwicklungen in der Welt beobachte und mit Freunden über den Verfall der Menschlichkeit streite, genieße ich die Lektüre eines Mammutwerkes, dass mich optimistisch stimmt. Das Buch Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit von Steven Pinker sollte zur Pflichtlektüre eines jeden politisch interessierten Menschen werden.

Ich gebe zu, 1000 Seiten liest man nicht mal eben so. Aber es lohnt sich und bringt Licht in das Mysterium Gewalt. Herr Pinker forscht schon lange über dieses Thema und versucht zu verstehen, warum es Gewalt gibt und wie es um dieses Phänomen heute steht.

Seine unmissverständliche These: Wir leben in der friedlichsten Zeit seit Menschheitsgedenken. Und es sieht nicht danach aus, dass sich daran in der kommenden Zeit etwas ändern wird. Ganz im Gegenteil. Gewalt ist ein abnehmendes Phänomen und zwar weltweit.

Eine sehr gewagte These, die jeder ablehnt, dem ich sie vortrage. Eine Erfahrung die auch Herr Pinker seit Jahren macht. Egal welche Befragungen er durchführt, die Ergebnisse bleiben immer gleich. Menschen glauben, dass Gewalt zunimmt.

Bevor wir seine Argumente diskutieren, muss eines geklärt werden. Wenn Herr Pinker behauptet, dass unsere Welt friedlicher wird, so sagt er damit nicht, dass es keine Gewalt gibt. Täglich sterben Menschen durch die Hand anderer Menschen. Und natürlich ist es den Pariser Opfern völlig gleichgültig, ob Gewalt abnimmt oder nicht, denn sie sind schließlich durch Gewalt umgekommen. Und auch für die Familien dieser Opfer hat das wenig Relevanz. Genauso wenig sagt er damit, dass es in Zukunft ewig so weitergehen wird. Es könnte natürlich sein, dass die Menschheit sich in einem kommenden Weltkrieg selbst auslöscht. Auch das glauben viele. Aber der Trend sagt eben etwas anderes.

Herr Pinker überprüft einfach die Fakten. Und die Fakten sagen uns, dass Gewalt in allen Lebensbereich und auf der ganzen Welt abnimmt. Und das seit es Menschen gibt. Die Wahrscheinlichkeit durch die Hand eines Mitmenschen zu sterben, war noch nie so gering, wie in unserer Zeit.

Warum glauben wir, dass die Welt immer gewalttätiger wird?

Wegen den Medien, ganz klar und offensichtlich. Morde, Kriege und Verbrechen werden heute sehr gut dokumentiert. Wir erfahren einfach davon. Das war nicht immer so.

Aber die Medien sind nicht alleine für unsere Fehleinschätzung verantwortlich. Tatsächlich ist es unser Verhältnis zu Gewalt, dass uns glauben lässt, dass es schlimmer wird. Wussten Sie, dass Gewalt lange Zeit nichts absonderliches war?! Heute können wir kaum verstehen, wie ein Mensch einen anderen töten kann.

Bis ins 17. Jahrhundert hat aber kaum einer in Frage gestellt, ob es verwerflich ist einen Menschen zu töten. Natürlich gab es Grenzen und Morde waren schon immer verboten, aber Gewalt als solches wurde nicht abgelehnt. Erst mit der Aufklärung tauchten die ersten Stimmen auf, die beispielsweise Kriege ächteten. Und heute leben wir in einer Welt, die Gewalt komplett ablehnt. Wir sind also friedlicher geworden, zumindest glauben wir nicht mehr, dass Gewalt die beste Lösung ist.

Wenn wir also heute mit Gewalt konfrontiert werden, dann erschüttert sie unser Glaubenssystem. Wie kann man nur 17 Menschen einfach ermorden?! Weil Gewalt heute nicht mehr zu unserem Alltag gehört, glauben wir automatisch, dass es immer schlimmer wird, wenn mal Menschen töten. In früheren Zeit war Gewalt ein Alltagsphänomen.

Immer weniger Kriege und vor allem immer weniger Opfer durch Kriege

Nehmen wir das Mittelalter. Wusstet ihr, dass beinahe jeder ein Messer mit sich trug? Und man trug es nicht nur, um das Brot zu schneiden. Nein, es diente auch zum Abschneiden von Nasen. Wer einem blöd kam, konnte locker mal ein Stück seiner Nase verlieren. Nichts absonderliches im Mittelalter. Völlig normal. Das Mittelalter war überhaupt eines der gewalttätigsten Zeiten, die wir erleben konnten. Natürlich hatte das etwas mit Religion zu tun. Aber wenn heute immer wieder behauptet wird, dass radikale Muslime noch nicht ihr Mittelalter hinter sich gelassen haben, wie eben die Christen, dann hinkt der Vergleich. Die Brutalität der Christen ist bisher von keinem muslimischen Terroristen überboten worden. Seht euch das unten mal an.

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Oder nehmen wir die vermeintlich friedlichen Naturvölker. Gewalt pur. Oder gehen wir noch weiter zurück. Ausgrabung von Menschen der Steinzeit belegen immer das Gleiche: fast 20 % der Menschen starben durch Menschen. Bei den Jägern und Sammlern sah es schon besser aus; dort starben etwa 15 % durch Menschenhand. Und die Welt des ganzen 20. Jahrhundert inklusive Kriege und Völkermorde, aber ohne gewöhnliche Morde?! 5 % der Weltbevölkerung starb durch Kriege und Genozide. Und im Jahr 2005 starben weltweit 0,3 % der Menschen durch Kriege. Das sind absolute Zahlen.

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Die meisten erwidern an dieser Stelle, dass heute schließlich auch mehr Menschen leben, weshalb man das gar nicht sagen kann, dass weniger gewaltsam sterben. Weniger Mensch bedeutet eine höhere Wahrscheinlichkeit durch Menschen zu sterben?! Verstehe ich nicht. Werden wir nicht gerade durch die nervigen Massen gewalttätiger?! Das hört man doch immer wieder. Seid Ihr noch nie mit einer imaginären Kalashnikov durch die Stadt gelaufen, weil euch dauernd einer anrempelt?! Noch nie Gewaltphantasien im Verkehr oder in vollen Bus gehegt?!

Gut, aber nehmen wir mal an, dass es doch etwas damit zu tun hat. Auch hier gibt es Zahlen. Wenn wir 100.000 Menschen haben, können wir Fragen, wie viele durch Gewalt (Krieg und Völkermord) sterben. Durchschnitt für nichtstaatlichen Gesellschaften (Naturvölker, Jäger und Sammler) liegt bei etwa 500 Menschen. Durchschnitt für das ganze 20. Jahrhundert (Krieg und Völkermorde ohne gewöhnliche Morde) liegt bei etwa 40 Menschen. Und die Zahlen für das Jahr 2005 weltweit? Auf 100.000 Menschen sterben 10 durch kriegsbedingte Gewalt.

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Ich könnte euch jetzt mit Zahlen erschlagen, aber darum geht es hier nicht. Der Trend ist einfach nicht von der Hand zu weisen. Und Herr Pinker spricht nicht von einem Trend der letzen Saison. Er spricht von einem Trend seit es die Spezies Mensch gibt. Über die Jahrhunderte wurden wir immer friedlicher und es scheint weiter in die Richtung zu gehen.

Es versteht sich von selbst, dass es regionale Unterschiede gibt. In bestimmten Regionen gehört Gewalt weiterhin zum täglichen Leben. Aber zumindest gehört sie nicht mehr in allen Regionen zum Alltag.

Auch Morde nehmen ab

Gerade sprach ich von Kriegen, aber das Gleiche gilt für gewöhnliche Morde. Auch die nehmen ab. Leider sind hier Zahlen schwieriger zu erfassen. Aber die Wissenschaftler haben Ihre Mittel, um uns trotzdem verlässliche Zahlen zu nennen.

Beginnen wir mit Europa. Im Jahr 1300 starben auf 100.000 Menschen etwa 60 durch einen Mord. Im Jahr 2000 etwa 1 Mensch. Diese Zahl ist seit 1900 ziemlich stabil mit geringen Schwankungen.

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Eine Ausnahme in der westlichen Welt bilden die Vereinigte Staaten. Hier liegt die Mordrate derzeit bei 6 auf 100.000. Es würde hier zu weit gehen, diese Abweichung zu erklären. Es sei so viel gesagt, dass es etwas mit der historischen Entwicklung des Landes zu tun hat. Im Norden gibt es beispielsweise weniger Morde als im Süden. Der Süden der USA hat einfach ein anderes Verhältnis zu Gewalt als der Norden. Aber auch mit dieser Ausnahme sind die Mordraten enorm gesunken in Westeuropa und den USA.

Für die Welt sehen die Zahlen nicht ganz so gut aus. Russland glänzt mit einer Mordrate zwischen 10–30 auf 100.000. Für einige Teile Schwarzafrikas (beispielsweise Kongo und Somalia) liegen die Zahlen bei 30–70 auf 100.000. Für den Rest Afrikas liegen sie bei 10–30, was noch sehr hoch ist.

Es liegt also noch Arbeit vor uns. Aber die Aussichten sind gut, dass die Welt auch immer weniger Morde sehen wird.

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Warum wird die Welt friedlicher?

Die Niedergang der Gewalt hat sechs Ursachen oder besser gesagt Trends.

1. Befriedungsprozess - Säßhaftigkeit minderte Überfälle 

Die erst große Errungenschaft in Punkto Gewaltminderung vollzog sich als Jäger und Sammler vor etwa 5.000 Jahren säßhaft wurden und Städte und Regierungen gründeten. Die Säßhaftigkeit führte dazu, dass es weniger Überfälle gab, weil Menschen weniger reisten. Diesen Prozess nennt Pinker den Befriedungsprozess.

2. Zivilisationsprozess - Staatliche Strukturen machten uns zivilisierter

Der nächste Sprung dauerte länger. Er begann im Spätmittelalter und wirkte bis ins 20. Jahrhundert. In dieser Phase bildeten sich große Staaten aus, die eine Feudalstruktur und zentrale Behörden entwickelten. Gleichzeitig wurde der Handel ausgeweitet. Dieser Zivilisationsprozess führte zu einem Rückgang der Gewalt. Insbesondere Morde nahmen in dieser Zeit enorm ab. Kriege wurden weiterhin ausgefochten.

3. Humanitäre Revolution - die Idee des Pazifismus lebt bis heute fort 

Im 17. und 18. Jahrhundert gab es einen weiteren Trend, der bis heute seine Früchte trägt. In der Aufklärung gab es die ersten Bestrebungen, Gewalt zu ächten. Das gab es vorher nicht. Philosophen, Ökonomen, Literaten und andere Intellektuelle träumten hier erstmals von einer gewaltlosen Zeit. Der Pazifismus hat ebenfalls hier seine Wurzeln. Diese Revolution senkte über die Jahrhunderte unsere Gewaltbereitschaft und tut es bis heute.

4. Der Lange Frieden - der Kalte Krieg war ziemlich friedlich 

Nach dem 2. Weltkrieg begann der lange Frieden. Seit diesem furchtbaren Krieg führten Großmächte keinen Krieg mehr gegeneinander. Die schlimmsten Kriege sind Kriege zwischen Großmächten und diese haben wir nun seit 70 Jahren nicht mehr erlebt. Eine Zeitspanne die einmalig in der Weltgeschichte ist. So lange gab es noch nie Frieden zwischen Großmächten.

5. Der Neue Frieden - das Ende des Kalten Krieges machte uns noch friedlicher

Seit dem Ende des Kalten Krieges leben wir im Neuen Frieden, der noch andauert. Obwohl unsere Welt chaotischer wurde, nimmt seit dem Ende des Kalten Krieges organisierte Gewalt ab. Dazu zählt auch die Zahl terroristischer Anschläge.

6. Revolution der Rechte - ein Mensch zählt heute etwas

Mit dem Ende des 2. Weltkrieges begann nicht nur der Lange Frieden sondern auch das Zeitalter der Rechte. Begonnen wurde 1948 mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Die Charta wurde im Laufe der letzten 70 Jahre erweitert um Rechte der Frauen, der Kinder, der Homosexuellen, der ethnischen Minderheiten und der Tiere. Man unterschätzt gerne die Wirkung dieser weichen Rechte, aber sie tragen enorm dazu bei, dass wir immer friedlicher werden. Noch nie in der Menschheitsgeschichte zählt ein Menschenleben so viel wie heute. Und das liegt an diesen Rechten.

Das sind die Trends, die uns friedlicher machten.

Und was sagt ihr?

Stimmt Ihr diesen Argumenten zu? Habt Ihr eine andere Wahrnehmung? Teilt sie mit und lasst uns diskutieren.