Wenn es um Handelsabkommen wie TTIP geht, dann wird immer über ein Aspekt komplett geschwiegen: Solche Abkommen fallen nicht vom Himmel, sondern müssen ausgehandelt werden. Doch die Probleme rund um Verhandlungen werden nie thematisiert, stattdessen sprechen alle über Inhalte.

In ökonomischen Bücher wird das Thema zumindest angeschnitten. Das fünfte Argument gegen den Freihandel besagt, dass es manchmal sinnvoll sein kann, den Handel zu beschränken, um bei Verhandlungen Spielraum zu haben. Weiter geht das Argument aber nicht. Was Verhandlungen sind und wie sie erfolgreich enden können, wird nicht weiter besprochen. Und auch bei der Debatte um TTIP schweigen hier alle. Offensichtlich wissen alle, wie man Verhandlungen führt. Deshalb sprechen alle nur über die richtige Politik. Doch wie soll die zustande kommen?

In diesem Artikel beleuchte ich deshalb das Thema Verhandlungen.

Wenn Ökonomen über den Freihandel sprechen, dann sprechen sie über etwas, dass es nie gegeben hat. Das kann man wunderbar an Freihandelsabkommen beobachten. Gewöhnlich würde so ein Abkommen nicht mehr als drei Seiten Text benötigen. Jedes Land würde sich darin verpflichten, die Handelszölle, nichttarifären Handelshemmnisse, Importquoten und sonstige Hürden fallen zu lassen. Damit wäre die Sache erledigt.

Und wie sieht die Realität aus? Ein Bekenntnis zum Freihandel auf der ersten Seite gefolgt von hunderten Seiten, die eine Ausnahme zu diesem Bekenntnis einführen. Der Text der Welthandelsorganisation umfasst zum Beispiel 22.000 Seiten. TTIP, sollte es verabschiedet werden, wird wahrscheinlich ebenfalls sehr lang.

Radikale Liberterianer suchen die Schuld bei Politikern. Die sind beeinflusst von Sonderinteressen und verhandeln dann eben im Sinne dieser Interessen. Das stimmt zum Teil, ist aber zu einfach gedacht.

Wir sprechen hier über Verhandlungen und nicht über die Suche nach perfekter Politik

Wenn Menschen über Demokratie, Politik und Freihandelsabkommen sprechen, dann wird ein Aspekt immer komplett ignoriert; namentlich die Tatsache, dass es immer um Verhandlungen geht.

Wir leben in einem Zeitalter der Verhandlungen, doch ignorieren ständig, was Verhandlungen eigentlich sind.

Der Politikwissenschaftler William Zartman definiert Verhandlungen wie folgt:

„Negotiation is a process of combining conflicting positions into a common position, under a decision rule of unanimity, a phenomenon in which the outcome is determined by the process.” 

In dieser Definition sind drei Aspekte besonders wichtig.

1. Die Positionen stehen meistens in Konflikt zueinander.

2. Jede beteiligte Partei muss dem Ergebnis am Ende zustimmen.

3. Verhandlungen sind ein Prozess, bei dem am Anfang nicht klar ist, was am Ende rauskommt.

Wer darüber nachsinnt, sieht vielleicht sofort, dass es gar nicht so einfach ist, ein Ergebnis zu finden.

Robert O. Kohane formulierte deshalb die These, dass Kooperation oft auch da unwahrscheinlich ist, wo die Interessen nicht divergieren. Heute kann man das an den Klimaverhandlungen beobachten. Eigentlich will jedes Land das Klima schützen, trotzdem können sich die Länder nicht einigen und wenn dann nur auf den kleinsten gemeinsamen Nenner.

Das verwundert nicht, wenn man sich bewusst macht, dass Kooperation verhandelt werden muss und Verhandlungen sind sehr anfällig für Störungen.

Wenn wir über Freihandelsabkommen nachdenken, dann vertieft sich das Problem. Man muss hier nämlich zwischen dem Inhalt der Verhandlung und den Prozess der Verhandlungen unterscheiden. Selbst wenn der Inhalt unstrittig ist, kann es passieren, dass Verhandlungen scheitern. In TTIP ist aber bereits der Inhalt sehr umstritten, was die Verhandlungen extrem schwierig macht. Und kaum einer spricht über dieses Problem.

Ich will das an der Präambel der Welthandelsorganisation verdeutlichen.

Was sind die Ziele dieser Organisation?

Es geht um die Verbesserung des Lebensstandards, Vollbeschäftigung, ständig wachsendes Einkommen und die Ausbreitung des Handels in Gütern und Dienstleistungen. Diese Ziele sollen übereinstimmen mit nachhaltiger Entwicklung, die Umwelt nicht zerstören und den Bedürfnissen und Anliegen der wirtschaftlich unterschiedlich entwickelten Länder entsprechen.

Handel ist hier ein Mittel, um diese edlen Ziele zu erreichen. Ökonomen bestätigen, dass diese Ziele wirklich durch Handel realisiert werden können. Ich behaupte, dass selbst der größte Freihandelsgegner nichts gegen solche Ziele einwenden wird. Und auch bei TTIP wird man in der Präambel ähnliches lesen können.

Wo liegt also das Problem? Warum sind Freihandelsabkommen so umstritten? Strebt nicht jedes Land diese edlen Ziele an?

Ganz einfach: Das Ergebnis muss verhandelt werden. Und bei jeder Politik wird es Verlierer geben. Alle Staaten haben deshalb Anreiz eine protektionistische Handelspolitik zu implementieren, selbst dann, wenn Freihandel die bessere Alternative ist.

Das liegt an zwei Aspekten, die bei Verhandlungen immer wieder auftreten.

1. Die Liberalisierung des Handels gleicht einem Gefangenendilemma

2. Regierungen sind eigeschränkt durch protektionistische Sonderinteressen

Was ist ein Gefangenendilemma?

Ein Gefangenendilemma ist eine spieltheoretische Situation, die mich in folgenden Konflikt bringt: Ich weiss, dass eine bestimmte Handlung für uns beide am besten wäre (Freihandel), sehe mich aber gezwungen, diese Handlung nicht zu wählen, weil du einen Anreiz hast, sie auch nicht zu wählen. Warum? Weil eine andere Handlung (Protektionismus) mir und dir etwas mehr geben würde. Das Problem: wenn wir beide so entscheiden, dann verlieren wir beide.

Schauen wir uns das in einer Grafik an.

gefangenendilemma-handelspolitik

P bezeichnet den Gewinn, den ein Land durch Exportmärkte erhält, - c verweist auf den Verlust durch die Öffnung der eigenen Märkte. P ist immer größer als - c, aber optimal wäre, wenn jedes Land nur den Gewinn P erhielte, und den Verlust - c auf den Konkurrenten abwälzt. Jedes Land hat deshalb einen Anreiz, seine Märkte zu schützen, gleichzeitig aber zu fordern, dass andere ihre öffnen. In der Sprache der Spieltheorie ist der Protektionismus eine dominante Strategie. Wenn alle Länder diese Strategie verfolgen, verharren sie im status quo – sie verlieren nichts, gewinnen aber auch nichts –. Das ist allerdings immer noch besser als die eigenen Märkte zu öffnen, ohne dass andere mitziehen. Die bestmögliche Lösung wäre erreicht, wenn alle Länder den Freihandel implementieren: Die Gewinne wären nämlich immer noch größer als die Verluste. Aber woher weiss der Verhandlungsführer, dass sein Gegenüber nicht betrügen wird? Weiss er nicht. Er muss vertrauen.

Wer mehr über dieses Dilemma lesen möchte, dem empfehle ich meinen Artikel über Spieltheorie.

Warum gibt es dieses Dilemma? Weil Menschen verhandeln müssen. Es ist ja nicht so, dass eine perfekte Politik vom Himmel fällt. Sie muss von irgendjemanden ausgehandelt werden. Und sobald Menschen verhandeln, sind sie mit diesem Dilemma konfrontiert. Ein Gefangenendilemma ist ein Vertrauensdilemma. Ich weiss nicht, ob ich dir Vertrauen kann, erst recht nicht, wenn ich sehen kann, dass eine umkooperative Handlung dir mehr Vorteile bringen würde.

Wie sieht das bei Handelsabkommen aus?

Freihandel mag in der Reinform die beste Politik sein, aber bevor wir dieses Ergebnis erzielen, durchlaufen wir eine Phase der Umstrukturierung. Jedes Land verliert etwas (Öffnung der eigenen Märkte) und jedes Land gewinnt etwas (Öffnung der Märkte anderer Länder). Wenn Politik nicht eingreift, dann wir am Ende vielleicht ein Optimum erreicht, in dem alle gewinnen. Doch warum sollte Land A, nicht eine Politik verfolgen, die ohne Umstrukturierung schon Früchte trägt?! Den eigenen Markt schützen und sich über die Öffnung der Märkte anderer Länder freuen, ist eine solche Politik.

Warum sind Interessengruppen so einflussreich?

Politiker stecken in dem Gefangenendilemma, weil sie von allen Seiten mit Forderungen belagert werden. Interessengruppen wollen Schutz und tragen das an Politiker heran. In einer Demokratie können diese Gruppen nicht ignoriert werden.

Man schaue sich nur die Debatte um TTIP an. Es gibt so viele Parteien, die gegen dieses Abkommen sind. Manche dieser Gruppen wollen einfach nur Ihr Monopol wahren, andere sorgen sich um soziale Standards oder die Umwelt, wieder andere lehnen den Freihandel per se ab. Von jeder Seite erhalten Politiker Anweisungen, was sie tun sollen. Zu jedem Argument findet sich mindestens ein Gegenargument.

Selbst wenn Freihandel die beste Option wäre - und das ist nicht gesichert - könnten Politiker diese Politik nicht implementieren. Hier sehen wir das große Dilemma jeder Verhandlung: Viele Interessen stehen in Konflikt zueinander und trotzdem müssen alle zustimmen. Deshalb endet fast jede Verhandlung in einem unbefriedigenden Ergebnis. Politiker bemühen sich, jeder Seite ein kleines Zugeständnis zu machen. Am Ende haben wir dann ein ungerechtes Abkommen. Deshalb finden wir nie ein Freihandelsabkommen auf nur drei Seiten. Aber genauso so muss es sein. Das ist ein Kernelement moderner Demokratien.

Ich will noch einmal ein Beispiel aus der Debatte um TTIP herausgreifen. Auf Facebook wird die Debatte sehr heftig geführt. Dabei fiel mir auf, dass viele Gegner des Abkommens gerne folgendes Argument anführen:  

Niemand in Europa will TTIP und wenn die EU-Kommission trotzdem dieses Abkommen verabschiedet, dann ist das undemokratisch.

Selbst wenn ein großer Teil der Europäer TTIP ablehnt, so ist es doch irgendwie anmassend zu behaupten, dass niemand in Europa TTIP will. Das kann gar nicht stimmen. Wer es nicht glaubt, kann es im Artikel Die Wahrnehmung von TTIP im Ausland nachlesen.

Die Leute sagen damit eigentlich:

Ich lehne TTIP ab und meine Stimme zählt. 

Was stimmt.

In einer radikalen Interpretation könnte solch eine Aussagen auch so gewertet werden:

Wenn ich dem Abkommen nicht zustimme, dann ist es undemokratisch.

Und genau das scheinen die Menschen zu meinen. Ist das aber nicht ein sehr diktatorisches Argument? Zumindest sollte man einräumen können, dass es ein paar Menschen gibt, die das Abkommen vielleicht doch wollen. Zählen diese Stimmen denn weniger?

Wir sehen hier ein grundsätzliches Problem in Demokratien: jede Stimme zählt, aber nur meine ist wichtig. Jede dieser wichtigen Stimmen sagt der Politik, was die richtige Politik ist. Aus diesem Grund finden wir nie eine perfekte Lösung bei Verhandlungen.

Politiker benötigen Spielraum und Verschwiegenheit, um verhandeln zu können

Wir sehen also, dass es keine perfekte Politik gibt und geben kann. Wenn Politiker ein Freihandelsabkommen verhandeln, benötigen sie Spielraum. Spielraum haben Politiker nur, wenn sie den Handel begrenzen.

Nun kann ein Politiker in einer Verhandlung sagen:

Ich gebe dir A, wenn du mir B gibst. Oder auch: wenn du mir C verweigerst, dann nehme ich dir D weg.

Sie könnten auch einfach den Freihandel implementieren, wenn es die beste Politik ist, wie viele Ökonomen behaupten. In einer Verhandlung geht das aber nicht. Eine einfache Verhandlungsregel besagt, dass man nie offenbaren sollte, was man bereit ist, zu geben. Tut man es doch, endet man gewöhnlich mit noch weniger.

Die EU-Kommission benötigt deshalb eine gewisse Verschwiegenheit, um nicht zu sagen Intransparenz, um verhandeln zu können. Mir ist bewusst, dass derzeit von vielen Gruppen Transparenz gefordert wird. Bis zu einem gewissen Grad ist das auch notwendig und gut für die Kommission. Aber bei solchen Verhandlungen kann es keine völlige Transparenz geben, weil dann der Spielraum für eine Einigung weg ist.

Man erinnere sich an den dritten Aspekt in der Definition einer Verhandlung: Wir sprechen über einen Prozess, bei dem zu Beginn nicht klar ist, was am Ende stehen wird. Es muss eben ausgehandelt werden.

Wenn die Amerikaner wissen, was die Europäer anbieten können, dann sprechen wir nicht mehr über eine Verhandlung, sondern über vollendete Tatsachen à la Take it or leave it. Das widerspricht dem Verhandlungscharakter. Es muss Raum für Einigung und Zugeständnisse geben. Jede Seite muss etwas anbieten können.

Damit sage ich nicht, dass Transparenz schlecht ist. Transparenz kann auch eine Verhandlungsstrategie sein. Wenn die Kommission in einem Bereich nicht nachgeben will, dann sollte sie die Bevölkerung auf ihre Seite bringen. Sie kann dann den Amerikanern sagen:

Hier können wir euch nichts anbieten. Das wird unsere Bevölkerung niemals akzeptieren.

Mir ist sehr bewusst, dass wir hier einen Punkt berühren, der gerade in den letzten Jahren sehr kontrovers diskutiert wird. In einer traditionellen Demokratie reichte es lange Zeit aus, dass wir unsere Politiker wählten und ihnen damit auch ein Verhandlungsmandat erteilten. Am Ende haben wir ihre Leistung bewertet und sie gegeben falls abgewählt.

Doch die Demokratie hat sich weiter entwickelt. Heute reicht es nicht mehr aus, am Ende das Ergebnis zu bewerten. In der europäischen Politik ist das ein besonderes Problem, weil hier ein Demokratiedefizit offensichtlich ist. Nicht die Bürger erteilen der Kommission das Verhandlungsmandat, sondern die Regierungschefs der einzelnen Länder.

Insofern funktioniert hier das Prinzip der traditionellen Demokratie auch nicht so gut. Deshalb spricht der Politikwissenschaftler John Keane heute von einer monitory democracy. Bürger wollen nicht erst am Ende die Politik bewerten, sie wollen sie zunehmend mitgestalten. Das ist eine gute Entwicklung. Allerdings stoßen wir hier auf Schwierigkeiten, für die wir noch keine Lösungen haben.

Wie müssten die TTIP-Verhandlung genau aussehen, damit alle Bürger das Gefühl haben, mitzuentscheiden? Wie viel Transparenz kann die Kommission zulassen, ohne ihre Handlungsfähigkeit komplett lamm zulegen? Wie können Bürgergruppen an den Verhandlungen beteiligt werden? Reicht es, wenn die Kommission alle Gruppen ordentlich informiert oder müsste sie aus jeder gesellschaftlichen Gruppe Menschen einladen, an den Verhandlungen zu partizipieren? Wer soll entscheiden, welche Menschen beteiligt werden müssen? Was ist mit den Gruppen, die gar nicht an einem Abkommen interessiert sind? Sind ihre Stimmen wichtiger als die Stimmen der Befürworter?

Diesen Katalog an Fragen könnte man endlos weiterführen. Es ist offensichtlich, dass eine Beteiligung während laufender Verhandlung notwendig ist, aber wie soll die genau aussehen?

Thilo Bode und Franz Kotteder haben beispielsweise Bücher über TTIP veröffentlicht, die sich mit den inhaltlichen Fragen befassen. Beide sind für ein Freihandelsabkommen, aber gegen TTIP. Beide schlagen vor, die Verhandlungen komplett neu zu beginnen; dann aber transparent. Beide schweigen darüber, wie solche transparenten Verhandlungen aussehen sollen. Sichert Transparenz Zustimmung?

Inhaltlich kann ich ihre Kritik an TTIP verstehen, aber beide schweigen über die generellen Probleme von Verhandlungen. Es ist ja nicht so, dass wir uns nur auf die beste Lösung verständigen müssen; wir müssen sie dann auch mit den Amerikanern verhandeln. Und das bedeutet, wir müssen der anderen Seite auch etwas anbieten können.

Aus meiner Perspektive müssten wir mehr darüber sprechen, wie Verhandlungen transparenter werden können, ohne den Prozess komplett lamm zu legen. Nur wenn hier gute Antworten geliefert werden, können wir die Demokratie in die nächste Stufe befördern.