Viele menschliche Phänomene werden heute zunehmend psychologisch erklärt; so unter anderem Verzweiflung. Aber gerade die Philosophie bietet sehr interessante Einsichten in die Abgründe der menschlichen Seele.

Deswegen stelle ich euch heute den Begriff Verzweiflung aus einer philosophischen Perspektive vor.

Gemeinhin versteht man unter Verzweiflung einen Zustand des Gemüts, der meistens in einer Situation auftaucht, die man als aussichtslos empfindet. Verzweiflung wird gewöhnlich begleitet von Hoffnungslosigkeit.

An dieser Definition ist nichts verkehrt und sie gibt das Problem passend wieder. Menschen, die Selbstmord begehen, tun das gewöhnlich, weil sie verzweifelt sind. Allerdings bin ich mir unsicher, ob das auch auf Selbstmordattentäter zutrifft.

Der Philosoph Sören Kierkegaard (1813-1855), der heute als Begründer des Existenzialismus betrachtet wird, hatte eine etwas andere Vorstellung von Verzweiflung.

In seinem Werk „Die Krankheit zum Tode“ definiert er Verzweiflung als eine Krankheit zum Tode; eine Krankheit im Geist und im Selbst; eine Krankheit, die sich in drei Formen präsentiert: 

1. verzweifelt sich nicht bewusst zu sein, ein Selbst zu haben (uneigentliche Verzweiflung)

2. verzweifelt nicht man selbst sein wollen

3. verzweifelt man selbst sein wollen

Wer ein wenig Sinn für Struktur hat, erkennt sofort, dass nach dieser Definition im Grunde jeder Mensch verzweifelt ist. Es gibt kein Entkommen. In irgendeine dieser drei Kategorien passt jeder Mensch; folglich ist nach Kierkegaard jeder Mensch verzweifelt.

Wie erklärt er das?!

Gehen wir einfach die einzelnen Formen der Verzweiflung durch.

Verzweiflung, in der Form sich nicht bewusst zu sein, ein Selbst zu haben

Individualität gehört heute zum Lieblingswort des Menschen. Der Begriff wurde allerdings nicht von Philosophen sondern von der Werbung erfunden. Alle Menschen sind individuell. Doch wie der Philosoph Richard David Precht zurecht anmerkt, führt uns dieser Begriff in eine Sackgasse:

„Der Wunsch, anders als die anderen sein zu wollen, macht uns alle gleich.“

Kurz: umso mehr ich glaube, etwas Besonderes zu sein, umso gewöhnlicher bin ich. Und genau das betrachtet Kierkegaard als die Verzweiflung, die sich so ausdrückt, dass wir nicht einmal wissen, ein Selbst zu haben.

Dazu muss man nur noch verstehen, was nach Kierkegaard ein Selbst ist.

Für Kierkegaard ist das Selbst am deutlichsten ausgedrückt im Begriff Geist. Der Geist ist die Synthese von Endlichkeit und Unendlichkeit; von Möglichkeit und Notwendigkeit. Alles sehr philosophisch. Kurzum würde man heute sagen, dass der Mensch, der Geist hat, sich bewusst ist, dass ein Teil von ihm endlich (Körper) und ein Teil unendlich (Seele) ist; weiter kennt er seine Grenzen als Mensch. Seine Möglichkeiten sind ihm bewusst, aber auch die Zwänge (Notwendigkeit), die ihm Grenzen setzen. 

Der Schwerpunkt liegt bei Kierkegaard beim Begriff „Synthese“. Die Versöhnung dieser verschiedenen Aspekte macht den Geist aus. Natürlich weiß jeder von uns, dass er endlich ist; aber das reicht nicht aus, weil es im täglich Leben völlig bedeutungslos ist. Man lebt so, als wäre man doch unendlich auf dieser Welt. Nur wenn die Endlichkeit bei der Gestaltung des Leben wahre Bedeutung gewinnt, kann von einer Synthese gesprochen werden.

Nun glaubte Kierkegaard, dass die größte Zahl der Menschen sich einfach gar nicht bewusst ist, ein Selbst zu haben. Es fehlt ihnen an Geist. Wenn man sich ein Haus denkt und dieses Haus hat einen Keller (das Sinnliche), ein Erdgeschoss (das Emotionale) und eine weitere Etage (der Geist),  so bevorzugen die meisten Menschen eben im Keller dieses Hauses zu leben. Sie leben durch und durch weltlich und von Außen gesteuert. Das kann man wunderbar am Begriff der Individualität erkennen.

Was verstehen wir heute darunter? Gewöhnlich Äußerlichkeiten. Kleidung, Musik, Filme, Frisuren, Tattoos, unsere Vorliebe für besondere Frauen usw. Wahre Individualität ist daran aber nicht wirklich erkennbar, weil wir eben gleich sind in diesem Bestreben. Wir werden gesteuert von Werbung und Marketing, nicht von einem Selbst. Wahre Individualität ist zunächst unsichtbar und zeigt sich eher darin, dass wir immer mehr erkennen, wie wenig individuell wir sind. Ein furchtbarer Gedanke. Also bemühen wir uns noch individueller zu sein und kaufen uns ein neuen Wagen, der unsere Persönlichkeit wirklich widerspiegelt.

Warum ist das nun aber Verzweiflung?

Weil es uns von unserer Bedürftigkeit abschneidet und letztlich von Gott. Kierkegaard war nämlich ein religiöser Philosoph. Er glaubte, dass Verzweiflung nichts anderes ist als die Trennung von Gott. Wenn nun jemand, gar nicht weiß, dass er ein Selbst hat, weiß er auch nichts von Gott. Und das ist Verzweiflung, selbst wenn man es gar nicht wahrnimmt.

Es ist der gleiche Vorgang, den wir bei Menschen beobachten können, die sich ihre Angst nicht eingestehen können. Nur weil sie das nicht können, bedeutet nicht, dass sie keine Angst haben. Die Angst nimmt eben andere Formen an; ist aber trotzdem Angst.

Moderne Existenzialisten lehnen einen Gott ab und erklären diese Form der Verzweiflung anders. Menschen ohne Geist sind demnach Menschen, die ihre Unfähigkeit ein erfülltes Leben zu führen, immer auf etwas Äußeres schieben.

Jean-Paul Sartre beschreibt es wie folgt:

„Wenn der Existenzialist einen Feigling beschreibt, sagt er, dieser Feigling ist für seine Feigheit verantwortlich. Er ist nicht so, weil er ein feiges Herz, feige Lungen oder ein feiges Hirn hat, nicht wegen einer physiologischen Anordnung, sondern weil er sich durch seine Handlungen als feige herausgebildet hat. Es gibt kein feiges Temperament.“

Wer kein Selbst hat, ist sich nicht seiner wahren Freiheit und folglich seiner Verantwortung bewusst. Und das ist Verzweiflung, die sich nicht als Verzweiflung ausdrückt.

Verzweifelt nicht man selbst sein wollen

Nun sind wir eine Stufe weiter. Der Mensch ist sich bewusst, ein Selbst zu haben, verzweifelt aber daran, weil er dieses Selbst nicht will. Die ganze moderne Psychologie baut auf dieser Verzweiflung auf. Es scheint, dass niemand von uns, so sein möchte, wie er wirklich ist. Für Kierkegaard war diese Form der Verzweiflung aber etwas durchaus positives, weil wir uns damit Gott etwas annähern.

Nun gibt es aber zwei Erscheinungsformen dieser Verzweiflung.

1. Die Verzweiflung am Irdischen

Denken wir uns einen Menschen, der bisher völlig von Außen gesteuert wurde; ein Mensch ohne Geist aber viel Individualität; ein Job der zu ihm passt, ein Haus, passende Freunde, eine Frau, Möbel, die seine Persönlichkeit widerspiegeln. Halt ein glücklicher Mensch, der nichts von Verzweiflung weiß. Und dieser Mensch landet nun im Krankenhaus, weil etwas mit seinem Körper nicht stimmt. Diagnose: Burnout!

Das ist Verzweiflung am Irdischen. Etwas Irdisches führt zum Leiden.  Es ist aber nichts reflektiertes; es kam unerwartet von Außen. Wäre es reflektiert, müsste es nicht so radikal einbrechen. Man würde es bemerken.

Die Verzweiflung ist aber auch irdisch, weil das gute Leben eben nicht mehr so weitergehen kann. Dieser Mensch weiß nichts vom Ewigen, er verzweifelt am Irdischen. Wenn der Sturm vorüber ist, geht es meistens weiter wie bisher.

2. Die Verzweiflung am Ewigen

Diese Form der Verzweiflung ist schon seltener anzutreffen. Hier erreicht der Mensch eine neue Qualität, er ist sich bewusst ein Selbst zu haben und verzweifelt eben an diesem Selbst. Alles Weltliche kann ihm hier nicht helfen.

Diese Form der Verzweiflung wurde literarisch am Besten von dem russischen Schriftsteller Leo Tolstoj in seiner „Meine Beichte“  aufbereitet.

Nachdem Tolstoj ein erfolgreicher Schriftsteller wurde und alles besaß, was man sich wünschen kann, erfasste ihn eine tiefe Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung, die einfach nicht weggehen konnte. Er selbst konnte sich das nicht erklären und nichts schien ihm zu helfen. In seiner Beichte beschreibt er, wie sein ganzes Wertesystem zusammenbrach. In tiefster Depression schreibt er:



Meine Frage, die mich im Alter von fünfzig Jahren beinahe zum Selbstmord getrieben hat, war die allereinfachste….. Ohne sie ist das Leben nicht möglich…

Diese Frage besteht im folgendem: 

"Was kommt heraus aus dem, was ich heute tue, was ich morgen tun werde - was kommt aus meinem ganzen Leben heraus?" 

Anders ausgedrückt: 

"Wozu habe ich zu leben, zu wünschen, zu handeln?" 

Oder noch anders: 

"Hat mein Leben einen Zweck, der durch unausbleiblichen, mir bevorstehenden Tod nicht aufgehoben wird?"

Das ist Verzweiflung am Ewigen. Die Erkenntnis, dass unser Leben endlich ist und das unsere täglichen Handlungen in Anbetracht des Todes eitel sind. Sie haben keine Bedeutung.

Wir nennen diese Form der Verzweiflung heute Depression und behandeln sie mit Medikamenten. Tolstoj konnte nicht darauf zurückgreifen. Er suchte jahrelang nach einer Lösung dieser Verzweiflung. Er fand sie schließlich in Gott und einem einfachen Leben.

Kierkegaard sah in dieser Verzweiflung etwas wertvolles. Solche Zeiten sind zwar voller Einsamkeit, aber wer sagt, dass Einsamkeit etwas Schlechtes ist?!

Die Mehrheit der Gesellschaft eben. Bissig merkt Kierkegaard an:

„…im Ständig-Gesellschaftlichen unserer Zeit schreckt man vor der Einsamkeit so sehr zurück, dass man sie zu nichts anderem als zur Strafe für Verbrecher zu gebrauchen weiß. Aber es ist wahr, dass es in unseren Zeiten ein Verbrechen ist, Geist zu besitzen, dann ist es ja auch ganz in Ordnung, dass solche Leute, Liebhaber der Einsamkeit, in eine Klasse mit dem Verbrecher kommen.“

Verzweiflung man selbst sein wollen

Was ist nun aber das für eine Form der Verzweiflung?! Der Mensch hat ein Selbst, mag es und soll verzweifelt sein?! Genau. Man kann es mit einem Wort erklären: Trotz.

„Ich bin so, wie ich bin“, schrie er.

„Ich kann dein Ich nicht mehr ertragen.“ erwiderte sie.

Nun sind wir soweit, dass wir wissen, dass unser Selbst unendlich ist. Wir sehen unsere Trennung von Gott; werden aber nun trotzig. Wir wollen so sein, wie wir sind, auch wenn wir darunter leiden, so zu sein. Halt trotzig.

Kierkegaard schreibt dazu:

„Es ist selbstverständlich, dass sich ein Leidender sehr gern helfen lassen will, wenn ihm nur jemand helfen kann." 

Das ist durchaus nicht so…die Sache ist die: ein Leidender wünscht sich eine oder mehrere Arten, wie ihm geholfen werden könnte. Wenn ihm so geholfen wird, ja, dann lässt er sich helfen. Doch wenn es im  tieferen Sinn Ernst mit der Hilfe wird, insbesondere wenn es dann von einem Höheren oder dem Höchsten kommt - diese Demütigung, dass man die Hilfe unbedingt und in jeder Art annehmen muss…- oh, das ist gewiss ein großes Leiden.

Hilfe ja; aber nur zu meinen Bedingungen und nach meinen Vorstellungen. Wenn die Hilfe nicht so kommt, dann wird das Selbst trotzig und verzichtet auf Unterstützung. Es bleibt verzweifelt.

Buchempfehlung

Ich hoffe diese verkürzten Ausführungen haben euch etwas Spaß bereitet. Wer mehr am Thema interessiert ist, dem empfehle ich folgende drei Werke:

Sören Kierkegaard: Die Krankheit zum Tode

Leo Tolstoj: Meine Beichte

Jean-Paul Sartre: Der Existenzialismus ist ein Humanismus.