„Wie kann eine gerechte und stabile Gesellschaft von freien und gleichen Bürgern dauerhaft bestehen, wenn diese durch ihre vernünftigen religiösen, philosophischen und moralischen Lehren einschneidend voneinander geschieden sind?"

Dieser Frage wendet sich der amerikanische Philosoph John Rawls in seinem Buch „Politischer Liberalismus" zu. Er greift damit die älteste Problematik des Liberalismus neu auf. Sie tauchte erstmals als Folge der religiösen Auseinandersetzungen um die Reformation auf. Der Liberalismus mit seinem Toleranz- und Pluralismusgedanken gab eine erste Antwort. Freilich keine endgültige, wie die zeitgenössische Debatte zeigt.

Das verwundert nicht, denn das Hauptanliegen des Liberalismus war nie, zu entscheiden, welche Vorstellung vom Guten die Richtige ist. Er ist gerade aus der Einsicht entstanden, dass diese Frage nicht auf friedliche Weise entschieden werden kann. Die Geschichte, gepflastert mit unzähligen Leichen auf dem Weg zur Wahrheit, gibt ihm darin Recht.

Deshalb trat diese politische Denkrichtung von Beginn an als Schlichter auf, indem sie akzeptierte, dass es unterschiedliche Vorstellungen von Wahrheit, Moral und Religion gibt. Vielmehr interessierte den Liberalismus, wie Menschen friedlich zusammenleben können, ohne ihre unterschiedlichen Vorstellungen aufgeben zu müssen. Das war zum Beispiel das Anliegen der Philosophie von Thomas Hobbes.

Rawls knüpft an diese liberale Tradition an, gibt aber eine gänzlich neue Antwort. Ihm geht es nicht genuin um Friedenssicherung in Anbetracht konkurrierender Wertvorstellungen. Ihm geht es um Gerechtigkeit. Er konstruiert seine Theorie für demokratische Gesellschaften, die bereits erfahren im Umgang mit pluralistischen Vorstellungen sind. Einen gewissen modus vivendi kann in ihnen bereits vorgefunden werden. Rawls glaubt aber, dass eine demokratische Gesellschaft nur dann auf Dauer stabil sein kann, wenn eine gemeinsame politische Gerechtigkeitsvorstellung gefunden wird, die von allen vernünftigen umfassenden Lehren - aus den richtigen Gründen - bejaht werden kann.

Sein Ziel ist also nicht einen Kompromiss zwischen diesen Wertvorstellungen herzustellen, sondern einen übergreifenden Konsens. Das Problem dieses Ansatzes ist es, dass nur vernünftige umfassende Lehren einbezogen werden. Was Rawls darunter versteht und welche Schwächen dieser Ansatz aufweist, soll Thema dieser Arbeit sein.

Zwei Aspekte sollen diskutiert und problematisiert werden. Zum einen die Frage, warum Rawls glaubt, dass demokratische Gesellschaften mit einem Stabilitätsproblem konfrontiert sind, wenn ihr markantestes Merkmal doch gerade ist, dass sie einen Pluralismus unterschiedlicher Vorstellungen bereits akzeptieren. Gefährden vernünftige Weltanschauungen in demokratischen Staaten also wirklich die Stabilität? Wieso reicht ein Hobbesscher modus vivendi nicht aus? Warum bedarf es eines übergreifenden Konsenses?

Des Weiteren soll der Frage nachgegangen werden, die bei Weitem die größte Kontroverse unter Philosophen hervorgerufen hat, nämlich: Wie realistisch ist ein solcher Konsens überhaupt? Wieso glaubt Rawls, einen Konsens zwischen zerstrittenen, gleichwohl vernünftigen umfassenden Lehren herstellen zu können? Und wie erstrebenswert ist ein solcher Konsens überhaupt?

1. Das Faktum eines vernünftigen Pluralismus in demokratischen Gesellschaften

In der eingangs zitierten Frage spricht Rawls zum einen von vernünftigen religiösen, philosophischen und moralischen Lehren und zum anderen von freien und gleichen Bürgern. Darin deutet sich bereits an, was später explizit gemacht wird: es handelt sich um einen vernünftigen Pluralismus, der nur in demokratischen Gesellschaften vorzufinden ist. Nur Demokratien gestehen ihren Bürgern gleiche Rechte und Freiheiten zu, was impliziert, dass jeder Bürger der Vorstellung vom Guten anhängen kann, die ihm am glaubhaftesten scheint. Diese Ausgangsbedingung ist grundlegend für Rawls' Gerechtigkeitskonzeption, denn sie richtet sich an demokratische Gesellschaften und nur an diese. Der politische Liberalismus strebt nicht an, den Dissens zwischen unterschiedlichen Wertvorstellungen in allen Gesellschaften oder Kulturkreisen zu versöhnen. Seine Ambitionen sind viel bescheidener. Rawls glaubt, dass seine Gerechtigkeitskonzeption – wenn überhaupt – dann nur in Demokratien realisierbar ist.

Deshalb spricht er von vernünftigen umfassenden Lehren und deutet damit an, dass es auch unvernünftige gibt. Diese definiert er allerdings sehr vage, denn er ist sich bewusst, dass eine klare Definition Gefahr liefe, zu willkürlich und exklusiv zu sein. Da Demokratien sowohl mit vernünftigen als auch unvernünftigen Lehren konfrontiert sind, soll keine Ideologie diskreditiert werden. Rawls' Definition vernünftiger Lehren umfasst im Groben drei Merkmale.

Sie ist ein Ergebnis sowohl der (1) theoretischen als auch der (2) praktischen Vernunft und steht in der Regel in einer (3) intellektuellen oder doktrinären Tradition. Eine vernünftige Weltanschauung ist Ausdruck der theoretischen Vernunft, weil sie in einer widerspruchsfreien und kohärenten Weise alle Aspekte des menschlichen Lebens abdeckt. Die Bibel gibt beispielsweise auf alle wesentlichen Lebensfragen eine Antwort. Sie formt eine umfassende Sicht der Welt. Die praktische Vernunft spielt eine Rolle, weil solche Ideologien gewöhnlich in Konflikt mit der Welt geraten und dann bestimmt werden muss, welchen Werten besonderer Vorrang zukommen soll. Das dritte Merkmal spielt auf die relative Unabänderlichkeit solcher Lehren an, denn normalerweise sind sie Ausdruck einer langen Tradition, die gegen Veränderungen sehr resistent sind.

Die aufgezeigte Definition ist allerdings sehr formal und verrät nicht, wo die Grenze zu unvernünftigen Lehren liegen soll. Daher ergänzt Rawls die Definition um eine wesentliche Komponente: Die Anhänger von vernünftigen Lehren betrachten es als unvernünftig, „politische Macht – so sie darüber verfügen – dafür zu nutzen, umfassende Ansichten zu unterdrücken, die nicht unvernünftig, aber von ihren eigenen verschieden sind". Gewaltverzicht bei Konflikten mit anderen umfassenden Lehren ist der ausschlaggebende Punkt, wie der Philosoph Wolfgang Kersting richtig anmerkt. Vernünftige umfassende Lehren sind folglich nicht fundamentalistisch.

Rawls' Auffassung kann zunächst zugestimmt werden. In demokratischen Staaten besteht keine Einigkeit darüber, wie die grundlegenden Institutionen eingerichtet werden sollen, also wie z.B. das Verhältnis zwischen Freiheit und Gleichheit aussehen soll. Die Bürger in einer liberalen Gesellschaft sind sich oft uneinig, weil jeder eine eigene Vorstellung von einer gerechten Ordnung hat und jede dieser Vorstellung mehr oder weniger vernünftig ist. Zugleich sind viele dieser Vorstellungen konträr zu anderen, ebenso vernünftigen Lehren. Es gibt also kein Kriterium, das entscheiden könnte, welcher Vorstellung Vorrang gebührt.

Rawls' geht davon aus, dass die Streitigkeiten unter solchen Lehren fortbestehen werden, selbst dann, wenn vernünftig und ohne böse Absicht diskutiert wird. Er erklärt es mit den Bürden des Urteilens, die immer unterschiedliche Interpretationen ein und desselben Sachverhalts zulassen und zu einer vernünftigen Meinungsverschiedenheit führen. Das einzige Mittel Einigkeit zu erzeugen, besteht in der Anwendung von Repression und Gewalt. Eine Gruppe zwingt, wenn sie stark genug ist, einer anderen ihre Sichtweise vom Wesen des Guten auf. Dazu lassen sich unzählige historische Beispiele anführen, wie z.B. die Kämpfe in der Reformation oder die Inquisition.

Der Liberalismus (ob traditionell oder politisch) und demokratische Gesellschaften lehnen diese Möglichkeit ab. Beide tolerieren und erkennen an, dass es unterschiedliche Vorstellungen vom guten Leben gibt. Diese Toleranz ist allerdings nicht grenzenlos, auch Rawls setzt Grenzen. Gustav Radbruch erklärt es wie folgt:

„Relativismus ist die allgemeine Toleranz – nur nicht Toleranz gegenüber der Intoleranz."

Er spricht zwar vom Relativismus, dieser ist aber konstitutiv für liberale und demokratische Gesellschaften. Das bedeutet, dass eine Demokratie durchaus willens ist, jeder Überzeugung die Macht anzuvertrauen, solange sie den Pluralismus und die Gleichwertigkeit konkurrierender Auffassungen akzeptiert, zumindest duldet, auf jeden Fall nicht unterdrückt. Rawls sieht dieses Einvernehmen trotzdem kritisch. Denn keine umfassende Lehre stimmt einer demokratisch-liberalen Ordnung aus Überzeugung zu, bestenfalls weil sie es als notwendig erachtet (was bereits ein beachtlicher Fortschritt wäre).

Der Westfälische Frieden von 1648 und die Geburt des modernen Staates sind ein gutes Beispiel für diese Notwendigkeit. Der Friede wurde nicht geschlossen, weil die kämpfenden Parteien ihren Wahrheitsanspruch aufgaben. Vielmehr stimmten sie zu, weil der Kampf viele Tote forderte und letztlich nicht entschieden werden konnte. Doch wie stabil kann eine solche Gesellschaft sein? Die gleiche Frage stellt sich für unsere heutigen Demokratien, auch wenn diese eingeübt sind im Umgang mit Dissens. Hier setzt der politische Liberalismus ein. Er möchte eine politische Gerechtigkeitskonzeption vorlegen, die von vernünftigen Lehren aus guten inneren Gründen anerkannt wird. Das erfordert, dass sich diese Lehren aus dem öffentlichen Leben zurückziehen. Das ist wiederum nur möglich, wenn eine gemeinsame politische Basis gefunden wird, der alle zustimmen können.

2. Rawls' politische Gerechtigkeitskonzeption

„Was also sind Königreiche, wenn ihnen Gerechtigkeit fehlt, anderes als große Räuberbanden?" Augustinus' Frage ist bis heute gültig. Deshalb begnügt sich Rawls nicht mit einer bloßen Zustimmung zum Liberalismus. Vernünftige umfassende Lehren sollen der Rawls' Auffassung zustimmen, weil sie seine Gerechtigkeitskonzeption im Rahmen ihrer Ideologie bejahen. Doch wie soll das möglich sein?

Eine solche Gerechtigkeitskonzeption muss drei Bedingungen erfüllen:

  1. Obwohl es sich um eine moralische Konzeption handelt, regelt sie nur die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Institutionen der Gesellschaft.
  2. Es handelt sich um eine freistehende Konzeption, die unabhängig von allen umfassenden Lehren ist.
  3. Die Konzeption muss in Ideen ausgedrückt werden, die dem common-sense demokratischer Gesellschaften entsprechen.

2.1. Eine moralische Konzeption mit Grenzen

Der Gegenstand der politischen Konzeption ist die Grundstruktur einer Gesellschaft, also die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Institutionen. Für Rawls handelt es sich um eine normative Konzeption mit begrenzter Reichweite. Dieser Entwurf möchte nur das öffentliche Leben einer Gesellschaft ordnen, nicht das private und familiäre. Das wird besonders deutlich an Rawls Unterscheidung zwischen Vernunft und Rationalität.

Die Vernunft ist öffentlich und konstitutiv für ein Konzept von Recht. Rationalität hingegen ist privat und grundlegend für ein Konzept des Guten. In seinem Entwurf räumt Rawls dem Rechten einen Vorrang vor dem Guten ein, was soviel bedeutet, dass die öffentliche Sphäre den verschiedenen Vorstellungen vom guten Leben Grenzen setzt. Kersting spitzt es folgendermaßen zu:

„Der liberale Staat ist nicht wegen des Überlebens und um des guten Lebens willen da, er ist wegen des Überlebens und um des Rechts willen da."

Diese Trennung zwischen einer öffentlichen und privaten Sphäre ist der liberalen Tradition durchaus vertraut. Es leuchtet ein, dass nur die öffentliche Sphäre geordnet werden soll; zugleich setzt diese Öffentlichkeit vernünftigen Lehren Grenzen. Sie müssen sich aus diesem Bereich zurückziehen, bzw. ihre Forderungen in einer vernünftigen, heißt politischen Weise artikulieren. Das erklärt Rawls mit seinem öffentlichen Vernunftgebrauch.

2.2. Eine freistehende Konzeption

Wie soll das Verhältnis einer solchen Konzeption zu umfassenden Lehren aussehen? Eine Möglichkeit wäre es, nach Gemeinsamkeiten aller Weltanschauungen zu suchen und daraus ein Konzept zu entwickeln, das für alle akzeptabel ist. Allerdings erscheint es sehr mühselig nach solchen Gemeinsamkeiten zu suchen. Darüber hinaus bezweifelt Rawls, dass ein solches Vorgehen erfolgversprechend noch wünschenswert ist.

Selbst wenn es im Ansatz möglich wäre, bliebe trotzdem zweifelhaft, ob die Lösung wirklich unparteiisch wäre. Es ließe sich kaum verhindern, dass eine Partei übervorteilt würde, was wiederum Anlass zu neuen Streitigkeiten bieten könnte und wahrscheinlich auch würde. Deshalb muss eine solche Konzeption freistehend sein, also in Begriffen formuliert werden, die sehr abstrakt sind und keiner umfassenden Lehre zugeordnet werden können. Sie muss unabhängig und neutral sein, nur dann können vernünftige Weltanschauungen sie gutheißen.

Das ist intuitiv nachvollziehbar. In einem Konflikt darf der Schlichter nicht aus den Reihen der Streitparteien kommen; nur Unparteilichkeit gewährt eine Lösung. Auf der anderen Seite muss der Schlichter aber an einem Punkt ansetzen können, der bereits gegeben ist. In Rawls Fall ist es der common-sense demokratischer Gesellschaften.

2.3. Einbettung in den common-sense demokratischer Gesellschaften

Das Rawls seine Theorie für Demokratien konzipiert und somit auf Ideen zurückgreift, die in einer solchen bereits vorhanden sind, wurde bereits erläutert. Hier soll nur noch ein weiterer Aspekt hervorgehoben werden. Obwohl Rawls seine Konzeption in moralischen Begriffen formuliert, gibt es einige untypische Einschränkungen. Rawls ist ein pragmatischer Denker. Das wird insbesondere an seiner Vorstellung von Moral deutlich. Seine Gerechtigkeitskonzeption soll den common-sense einer Demokratie wiedergeben, was bedeutet, dass sie solange modifiziert werden muss, bis sie diesem gerecht wird.

Das ist eine eher untypische Vorgehensweise für eine moralische Konzeption. Gewöhnlich wird die Moral nicht den reellen Bedingungen solange anpassen, bis sie akzeptabel ist. Genau das tut aber Rawls. Kersting rechnet ihm das hoch an, denn Rawls geht es nicht um Wahrheit sondern Vernünftigkeit. Tatsächlich hat Rawls ein aufrichtiges Interesse daran, einen realisierbaren Gerechtigkeitsentwurf zu konzipieren.

Dieser praktische Idealismus macht diesen Denker so sympathisch, denn zu oft wurde in der philosophischen Geschichte Gerechtigkeit so definiert, dass sie zwar vor Schönheit strahlte und den Weg in eine ideale Gesellschaft wies, aber kaum realisierbar war.

3. Die zwei Gerechtigkeitsprinzipien

Rawls glaubt, dass zwei Gerechtigkeitsprinzipien besonders geeignet sind, einen Konsens vernünftiger umfassender Lehren zu gewährleisten. Sie lauten wie folgt:

  1. „Jede Person hat den gleichen Anspruch auf ein völlig adäquates System gleicher Grundrechte und Freiheiten, das mit demselben System für alle vereinbar ist, und innerhalb dieses Systems wird der faire Wert der gleichen politischen (und nur politischen) Freiheiten garantiert."
  2. „Soziale und ökonomische Ungleichheiten müssen zwei Bedingungen erfüllen: erstens müssen sie mit Ämtern und Positionen verbunden sein, die allen unter Bedingung fairer Chancengleichheit offenstehen, und zweitens müssen sie sich zum größtmöglichen Vorteil für die am wenigsten begünstigten Gesellschaftsmitglieder auswirken."

Das ist Rawls' Vorstellung einer Gerechtigkeit als Fairness, die jedem Bürger eine Chance eröffnen soll, seine Konzeption des Guten zu verwirklichen. Der erste Grundsatz regelt die politischen Rechte (Grundrechte und Freiheiten), der zweite ordnet die sozialen (Chancengleichheit) und ökonomischen Verhältnisse (Differenzprinzip). Hinzu kommt, dass dem ersten Grundsatz ein Vorrang vor dem zweiten zukommt. Das bedeutet zum Beispiel, dass die ökonomischen Verhältnisse nicht auf Kosten der Grund- und Freiheitsrechte geordnet werden können. Eine sozialistische Verteilung vom Wohlstand wäre mit diesen Prinzipien beispielsweise nicht möglich.

An dieser Stelle können diese zwei Prinzipien nicht umfassend diskutiert werden. Hier soll geklärt werden, wie Rawls Menschen unterschiedlicher Glaubensrichtungen und Ideologien dazu überreden möchte, dieser Konzeption zuzustimmen. Die Wahl dieser Prinzipien begründet Rawls mit der Konstruktion eines Urzustands.

3.1. Vom Urzustand zum übergreifenden Konsens

Gerechtigkeitsprinzipien für eine demokratische Gesellschaft können nur über ein demokratisches Verfahren legitimiert werden. Für Rawls heißt das: alle Bürger müssen zustimmen. Während Demokratien Mehrheitsentscheidungen zulassen, geht es bei Rawls um Einstimmigkeit. Er muss also einen Weg finden, einen Konsens zwischen prinzipiell unvereinbaren Positionen zustande zu bringen und dabei niemanden zu übervorteilen. Er greift dazu auf eines der innovativsten Modelle der neueren Philosophie zurück: die Konstruktion eines Urzustands.

Bei Rawls' Modell handelt es sich um eine modifizierte Form des klassischen Kontraktualismus, wie Thomas Hobbes ihn entwickelt hat. Hobbes ging von einem hypothetischen Naturzustand aus und zeigte entzweiten Bürgern, warum es für sie von Vorteil ist, einen liberalen Staat zu gründen, der ihnen gleiche Rechte zuweist. Bei Hobbes schließen sich die Bürger allerdings aus purem Selbsterhaltungstrieb und aus rationellen Gründen zusammen. Rawls möchte sie aus normativen Gründen dazu überreden.

Rawls' Urzustand ist ebenfalls rein hypothetisch und unhistorisch. Er ist ein Mittel, das gewährleisten soll, dass die Suche nach Gerechtigkeitsprinzipien fair abläuft. Rawls geht davon aus, dass bei gewöhnlichen Verhandlungen zwischen umfassenden Weltanschauungen, jede Partei versuchen würde, ihre besondere Vorstellung von Gerechtigkeit zu etablieren. Das würde sicherlich nicht zu einem Konsens führen.

Deshalb führt er einen Schleier der Unwissenheit ein. Er beraubt die einzelnen Parteien jeglicher Individualität. Alle besonderen Kenntnisse und Charakteristiken von Menschen werden ausgeblendet: die Vorlieben sind unbekannt, welcher Lehre die Individuen anhängen ist unbekannt, der Status (wohlhabend oder arm, etc.) des Einzelnen ist unbekannt und ebenfalls alle anderen individuellen Merkmale eines Menschen. Das Wissen der Parteien ist ein Allgemeinwissen, ein Lehrbuchwissen.

Sie wissen, dass es unterschiedliche umfassende Lehren gibt, dass Menschen mit unterschiedlichen Begabungen ausgestattet sind, die Ressourcen knapp sind, dass es Ungleichheit gibt etc., aber sie wissen nicht, wer sie selbst sind, wie viel Ressourcen ihnen zur Verfügung stehen werden, welche Weltanschauung sie vertreten werden.

Der Schleier der Unwissenheit sorgt für ein Informationsdefizit. Alles Allgemeine über die Gesellschaft ist bekannt, alles Besondere völlig ausgeblendet. Unter diesen Bedingungen suchen Parteien in einem Urzustand nach gemeinsamen Gerechtigkeitsprinzipien. Der Urzustand ist dabei nur ein Darstellungsmittel, in den man jederzeit eintreten und damit das Verfahren selbst durchspielen kann.

Der Clou dieser Konstruktion ist, dass unter solchen Voraussetzungen alle Parteien vom Schlechtesten ausgehen müssen und damit gezwungen sind, in einer Weise zu argumentieren, die letztlich allen zugute kommt und zwar deshalb, weil keine Fraktion weiß, welche Stellung sie in der kommenden Gesellschaft einnehmen wird. Die menschliche Rationalität zwingt sie dazu, davon auszugehen, dass sie die ungünstigste Position innehaben werden. Ein Moslem, der nicht weiß, ob er in der kommenden Gesellschaft nicht vielleicht ein Christ sein wird, wird sich dafür einsetzten, dass alle Glaubensrichtungen ihren Freiraum haben werden. Ein Reicher wird sich dafür einsetzten, dass auch Arme ein gutes Auskommen haben, weil er nicht weiß, ob er nicht eben zu dieser Gruppe gehören wird. Folglich werden alle versuchen, die ungünstigste Lage so annehmlich wie möglich zu gestalten. Aufgrund eines Informationsdefizits wird niemand diskriminiert:

„Der Schleier der Unwissenheit ist genau so dicht, daß er alles diskriminierungsrelevante Wissen der eigenen Interessenkalkulation entzieht, so daß auf ihrer Grundlage nie für ein Verteilungsprinzip argumentiert werden kann, das den eigenen Vorteil zu Lasten anderer sichert, und folglich notgedrungen immer für unparteiliche Verteilungsprinzipien argumentiert werden muß."

Die Genialität des Urzustands liegt darin, dass jede Partei sehr rational-egoistisch argumentieren kann und wird. Der Schleier der Unwissenheit, als Garant der Vernunft, wird jedoch verhindern, dass eine der Parteien übervorteilt wird. Unter solchen Bedingungen sind selbst Egoisten gezwungen, moralisch zu argumentieren.

Im Ergebnis werden die Parteien die oben genannten zwei Gerechtigkeitsprinzipien wählen. Sie sichern allen Parteien einen fairen, sprich gerechten Ausgang. Damit glaubt bzw. hofft Rawls, einen übergreifenden Konsens zwischen ansonsten unvereinbaren religiösen, philosophischen und moralischen Lehren hergestellt zu haben. Er weiß, dass alles von diesem Konsens abhängt. Es wird weiter unten ausführlicher besprochen. Zunächst genügt es, zu sagen, dass damit ein Konsens zwischen konträren Lehren über den politischen Bereich gemeint ist.

Alle vernünftigen umfassenden Lehren stimmen im Rahmen ihrer Überzeugung – sie haben schließlich die Prinzipien selbst gewählt – der politischen Gerechtigkeitskonzeption zu. Sie mussten und müssen dabei ihren eigenen Glauben nicht aufgeben, sowohl im Urzustand als auch in der kommenden Gesellschaft bleiben ihre Wertvorstellungen die Gleichen. Sie haben letztlich einer moralischen Konzeption zugestimmt, die jedoch nur die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Institutionen ordnet. Es ist also kein Konsens über das Wesen des Guten, sondern des Rechten. Allerdings hat dieser Konsens weitreichende Konsequenzen.

3.2. Der öffentliche Vernunftgebrauch

Wie sehen nun Debatten in einer nach Rawlsschen Prinzipien geordneten Gesellschaft aus? Rawls hat mit seinen Prinzipien den Konflikt zwischen widerstreitenden Weltanschauungen nicht beseitigt, er ermöglicht nur einen Konsens über die öffentlichen Institutionen. Dieser Konsens verpflichtet alle vernünftigen Lehren zu Toleranz gegenüber anderen vernünftigen Lehren, zumindest im öffentlichen Bereich. Deshalb muss geklärt werden, wie öffentliche Diskurse geführt werden sollen.

Aus dem übergreifenden Konsens wird sofort deutlich, dass er nicht mehr im Rahmen umfassender Lehren geführt werden kann. Argumente können z.B. nicht mehr in Anlehnung an die Bibel vorgebracht werden, weil nicht erwartet werden kann, dass ein Atheist sie verstehen und ihnen zustimmen kann. Deshalb muss eine Sprache gewählt werden, die erwarten lässt, dass alle Anhänger vernünftiger Lehren sie verstehen können. Für Rawls muss sie politisch bzw. öffentlich sein.

In Demokratien hören wir bezüglich entscheidungsrelevanter Themen immer wieder die Bemerkung, dass es sich um eine politische Frage handelt. Gemeinhin verstehen wir darunter, dass ein Problem nicht durch objektiv wahre oder falsche Kriterien gelöst werden kann, sondern nur durch eine Entscheidung, nur durch vernünftige Argumente. Ohne das Rawls etwas Ähnliches äußerte, kann behauptet werden, dass diese Haltung zum obersten Prinzip von öffentlichen Diskursen erhoben wird.

Wir verzichten in Diskursen auf den Wahrheitsanspruch, den vernünftige Lehren mit sich bringen und konzentrieren uns auf Argumente, die für jedermann verständlich sind, ganz gleich, welche Überzeugung er vertritt. Zugespitzt formuliert: Vernünftige Lehren ziehen sich aus dem öffentlichen Diskurs zurück. Rawls führt dazu den Begriff des öffentlichen Vernunftgebrauchs ein. Zunächst stellt er fest, dass „der öffentliche Vernunftgebrauch in einer demokratischen Gesellschaft der Vernunftgebrauch gleicher Bürger ist, die als Kollektiv in letzter Instanz politische Zwangsgewalt übereinander ausüben, indem sie Gesetze erlassen und Verfassungsänderungen vornehmen".

Es ist ein Vernunftgebrauch gleicher Bürger. Es gibt zu viele vernünftige Lehren und keine objektive Kriterien um zu entscheiden, welche dieser Lehren wahr sind. Das war gerade der Konflikt. Der Konsens über die zwei Gerechtigkeitsprinzipien führt nun dazu, dass öffentliche Diskurse nur noch in einer für alle Bürger verständlichen Weise geführt werden müssen, ergo losgelöst von ideologischen Glaubenssätzen.

Der Soziologe Max Weber kann helfen genauer zu verstehen, wie das gemeint ist. Weber unterscheidet in seiner Schrift „Politik als Beruf" zwei moralische Auffassungen: Die Gesinnungs- und die Verantwortungsethik. Ein Gesinnungsethiker handelt in Übereinstimmung mit seiner Moral und zwar in einer Art und Weise, die absolut ist. Wenn er etwas als moralisch richtig erkannt hat, dann erhebt er es zu einer Maxime, die keine Ausnahmen und Kompromisse duldet. Er hat danach zu handeln, ganz gleich welche Konsequenzen das mit sich bringt. Kants kategorischer Imperativ gehört zu dieser Gruppe. Wenn Ehrlichkeit ein moralischer Imperativ ist, dann darf es keine Argumente geben, die Lügen rechtfertigen.

Anders ein Verantwortungsethiker: seine Moral beachtet nicht nur das Postulat seiner sittlichen Einstellung, sondern auch die Konsequenzen eines ethischen Handelns. Seine Moral ist konsequentialistisch. Wenn sein Handeln anderen schadet, dann unterlässt er es oder passt es den Gegebenheiten an. Wenn Lügen ein Menschenleben rettet, dann müsste sich ein verantwortlicher Mensch wirklich fragen, ob es nicht gerechtfertigt ist.

Weber führt diese Unterscheidung ein, um deutlich zu machen, warum ein Politiker nur verantwortungsethisch handeln kann und muss. Und zwar deshalb, weil in aller Regel nicht er sonder die Bürger die Konsequenzen seines Handels tragen müssen. Wenn der Präsident entscheidet, in den Krieg zu ziehen, dann kann man sicher sein, dass er nie mit einer Waffe kämpfen wird. Sterben werden Menschen, die an der Entscheidungsfindung nie beteiligt waren. Als Repräsentant der Bürger kann ein Politiker deshalb nicht auf seine eigene Moral pochen. Gesinnungsethik ist etwas, dass im privaten Bereich gelten kann, aber nicht im Beruf als Politiker.

In Rawls' Lesart ist nicht nur ein Politiker dazu angehalten, verantwortlich zu handeln, sondern jeder Bürger der öffentlich Anstrengungen unternimmt, die Gesetze und die Verfassung zu ändern. Im Privaten darf jeder seine vernünftige umfassende Lehre ausleben, wie es einem beliebt. Sobald die öffentliche Sphäre betreten wird, übernimmt man Verantwortung für alle Bürger, insofern sie die Konsequenzen einer Entscheidung mittragen. Deshalb muss ein öffentlicher Diskurs verantwortlich, in Rawls Sprache vernünftig, geführt werden, d.h. nachvollziehbar für alle moralischen, religiösen und philosophischen Denkrichtungen. Das ist nur möglich, wenn Forderungen in einer politischen Sprache artikuliert werden.

4. Kritische Würdigung

Selbst wenn man Rawls Gerechtigkeitskonzeption für nicht überzeugend hält – und es gibt einige Zweifel an der Realisierbarkeit – den Rang einer der großen Philosophen des 20. Jahrhunderts zu sein, wird ihm kaum jemand absprechen. Nicht umsonst betitelte der Philosoph Richard Arneson einen Artikel mit „Justice after Rawls", denn nach Rawls muss sich jede Gerechtigkeitskonzeption auf seine Theorie beziehen, sei es affirmativ oder abgrenzend. Selten hat ein Philosoph eine derart elaborierte Theorie vorgelegt, nicht zuletzt deshalb ist sie aus den unterschiedlichsten Lagern kritisiert worden.

Doch Kritik ist immer auch eine Form der Anerkennung. Trotzdem finden sich darunter auch Einwände, die fadenscheinig sind. Einer der härtesten Vorwürfe ist wohl, dass Rawls im Grunde sehr illiberal ist, weil er von einer geschlossenen Gesellschaft ausgeht, in die weder ein- noch ausgetreten werden kann und Kranke, Behinderte etc. keine Beachtung finden. Darüber kann sicher diskutiert werden. Ein Punkt, der Rawls unabhängig von seiner Theorie, besonders auszeichnet, ist, dass er sehr lösungsorientiert denkt und schreibt. Das zeigt sich insbesondere in der Dichte und Reichhaltigkeit seiner Theorie. Allerdings sind Lösungen eben leicht kritisierbar.

Deshalb sollen nun zwei Kritikpunkte besondere Berücksichtigung finden, namentlich warum ein vernünftiger Pluralismus die Stabilität gefährdet und wie überzeugend ein übergreifender Konsens ist.

4.1. Wieso gefährdet ein vernünftiger Pluralismus die Stabilität einer Demokratie?

Auf den ersten Blick ist Rawls Fragestellung durchaus nachvollziehbar, denn wie sollen Bürger in einer Gesellschaft friedlich miteinander leben können, wenn Uneinigkeit über die Grundstruktur der Gesellschaft besteht; wenn keine gemeinsame Gerechtigkeitskonzeption gefunden wird? Ist das nicht möglich, dann ist Augustinus Frage völlig angemessen: Was ist ein demokratischer Staat, wenn er nicht durch Gerechtigkeit definiert werden kann? Vielleicht keine Räuberbande, aber bestimmt auch keine erhaltenswerte Gesellschaftsform.

Bei genauerer Betrachtung relativiert sich die Problematik etwas. Rawls geht zu Recht von einem vernünftigen Pluralismus aus. Er weiß, dass er unvernünftige Lehren (z.B. religiöse Fundamentalisten, Terroristen) nicht berücksichtigen kann, obwohl gerade diese so problematisch für offene Gesellschaften sind. Unvernünftige Lehren würden politische Macht wahrscheinlich dazu einsetzen, ihre Vorstellung vom Guten repressiv durchzusetzen. Das kann man derzeit an der ISIS gut beobachten, die im Irak und Syrien wütet. Unvernünftige Lehren sind fundamentalistisch. Rawls würde dem sicherlich zustimmen. Er selbst betitelt die Logik fundamentaler Ideologien mit dem „Faktum der Unterdrückung", weil sie nur durch Repression ihren Glauben durchsetzten können. Eine vernünftige Lehre in einer Demokratie würde das nicht tun.

Wieso sind dann aber diese Lehren gefährdend für die Stabilität? Wieso kann der Dissens zwischen unterschiedlichen Vorstellungen nicht zur Kultur einer Demokratie gehören? Müssen wir eine gemeinsame Gerechtigkeitsvorstellung finden? Ist es nicht schon genug, dass wir einen Pluralismus an Ideen haben und kultivieren? Wird von solchen Lehren nicht zu viel verlangt, wenn sie neben ihrer moralischen Überzeugung noch einer zweiten ihr Ja-Wort geben sollen? Solche und andere Fragen stellt unter anderem Wolfgang Kersting und seine Einwände sind durchaus überzeugend. Er spitzt die Kritik auf folgende Formel zu:

„Rawls' Theorie setzt sich dem Verdacht aus, entweder obsolet oder unzuständig zu sein. Dort, wo ihre Zuständigkeit gegeben ist, da ist sie nicht erforderlich, da die dramatischen Dissense, die sie heilen will, gar nicht existieren. Dort hingegen, wo dramatische Dissense existieren, ist sie nicht zuständig, da die Dramatik der Dissense gerade darin liegt, daß die Voraussetzungen nicht geteilt werden, die geteilt werden müßten, damit man sich auf eine politische Gerechtigkeitskonzeption einigen könnte. Rawls' Theorie bietet eine Therapie für eine Krankheit, die nicht existiert; für die Krankheit jedoch, die existiert, bietet sie keine Therapie."

Es ist nicht einfach, diese Kritik zu entkräften. Es ist berechtigt zu fragen, warum ein öffentlicher Streit zwischen Kantianern, Benhamiten, Utilitaristen oder unterschiedlichen christlichen Strömungen in einer Demokratie problematisch sein soll? Schließlich akzeptieren alle die liberale Ordnung und damit die Gleichheit aller Bürger zumindest im Ansatz? Keine der Lehren ist heute so unvernünftig, dass sie allen anderen ihre Überzeugungen aufzwängen will. Es handelt sich also um einen vernünftigen Diskurs. Rawls selbst macht mit seinen Bürden des Urteilens darauf aufmerksam, dass ein solcher Konflikt zu pluralistischen Gesellschaften dazugehört; er ist sogar begrüßenswert. Wieso ist dann aber dieser Pluralismus zugleich eine Gefahr?

Rawls verweist darauf, dass dies nur ein modus vivendi ist, eine Art Kompromiss, ähnlich dem der zum Westfälischen Frieden führte. Und ein modus vivendi ist nur dann stabil, wenn die Machtverhältnisse sich nicht ändern. Sobald aber eine Ideologie an Macht gewinnt, können wir uns nicht mehr sicher sein, dass sie diese nicht einsetzt, um ihre Auffassung auf Kosten anderer zu etablieren. Rawls fragt sich selbst:

„Wie können wir unsere eigene umfassende Lehre bejahen und dennoch die Auffassung vertreten, daß es nicht vernünftig wäre, die Macht des Staates zu benutzen, um alle zu ihren Anhängern zu machen?"

Diese Stelle ist zum Teil widersprüchlich. Denn einerseits definiert Rawls vernünftige Lehren in einer Weise, die es ihnen verbietet, andere zu unterdrücken, anderseits befürchtet er, dass sie politische Macht eben doch repressiv gebrauchen könnten. Zumindest schließt er das nicht aus. Wie vernünftig sind nun solche Lehren? Will Rawls vielleicht doch eine Krankheit kurieren, die so nicht existiert?

Seine Befürchtungen haben vielmehr Geltung, wenn demokratische Gesellschaften mit fundamentalen bzw. unvernünftigen Ideologien konfrontiert werden. Auch solche finden sich in ihnen vor und die Angst, dass sie eine liberale Ordnung abschaffen würden – hätten sie die Macht dazu – ist hier angebracht. Doch hier weiß Rawls um die Grenzen seiner Theorie. Obwohl durchaus denkbar ist, dass im Urzustand selbst Fundamentalisten die gleichen Prinzipien wählen würden. Es ist jedoch zu bezweifeln, ob ihre Bindung an solch eine Gesellschaft aufrichtig wäre.

Es fehlt an einer gemeinsamen Sprache, wie die Theologin Karen Armstrong einleuchtend nachweist. Die Vernunft spricht die Sprache des logos, die Unvernunft die des mythos. Beide sind wichtig und menschlich: logos, weil er uns rational denken lässt, mythos, weil er unsere mystischen Überzeugungen wiedergibt und uns lehrt, dass die Ratio nicht alles erfassen kann. Aber wehe dem rationalen Menschen der einen Diskurs mit einem in mythischer Sprache Denkenden beginnt, hier ist der Konflikt vorprogrammiert. Ein Kantianer kann einen fundamentalistichen Christen nicht mit der Ration überzeugen. Aber eben dieser Konflikt ist immer wieder in demokratischen Gesellschaften Thema. Wie sollen wir mit solchen Lehren umgehen? Hier fehlt es an einer Therapie, das weiß auch Rawls.

Kersting geht sogar soweit, zu sagen, dass Rawls' Konzeption, würde sie von allen vernünftigen Lehren anerkannt werden, eine Inklusion unvernünftiger Lehren erschweren würde. Gerade weil der öffentliche Diskurs eine Artikulation solcher Lehren unterbinden würde, gäbe es folglich auch kein Dazulernen. Rawls verweist selbst auf die Tatsache, dass manchmal ein Konsens zu liberalen Ideen aus einem Kompromiss erwächst. Über die Zeit lernen Bürger jedoch, dass dieser Kompromiss durchaus vorteilhaft und letztlich erhaltenswert ist. Schließlich ist die liberale Idee selbst auf diesem Wege entstanden und bis heute erhalten geblieben. Sein übergreifender Konsens würde eine derartige Lernfähigkeit noch unvernünftiger Weltanschauungen sehr erschweren.

Wie aufgezeigt, erweist sich Rawls Ausgangsfrage weniger problematisch, als zunächst angenommen. Ganz abgesehen davon, dass selbst vernünftige Lehren seine Gerechtigkeitsvorstellungen schwerlich akzeptieren können. Nicht einmal Liberale stimmen mit Rawls überein. Wie soll dann aber ein übergreifender Konsens möglich sein, wenn schon die Vertreter der gleichen Denkrichtung sich nicht einig sein können?

4.2. Wie überzeugend und erstrebenswert ist ein übergreifender Konsens?

Den größten Raum der Debatte um Rawls' Theorie nahm ein, ob ein übergreifender Konsens möglich ist und wie erstrebenswert er überhaupt ist? Für einige Kritiker ist ein Konsens in politischen Fragen logisch unmöglich, ganz einfach, weil eine Entscheidung selbst dann getroffen werden muss, wenn man sich nicht einig ist. Darin liegt begründet, warum in Demokratien nach dem Mehrheitsprinzip entschieden wird. Hinzu kommt, dass Rawls Einigkeit zwischen prinzipiell zerstrittenen Überzeugungen herstellen will, was die Sache nicht gerade erleichtert.

Infolgedessen ist nach dem Philosophen Anthony McGann ein solcher Konsens pure Utopie. Denn dieser Konsens gründet in einem falschen Verständnis von Gleichheit, nämlich dass jeder Einzelne immer zustimmen muss. Für McGann sind Mehrheitsentscheidungen durchaus ausreichend um der Gleichheit unter Bürgern Genüge zu tun. Auch Rüdiger Bittner steht diesem Konsens skeptisch gegenüber, zumal er den Dissens konkurrierender Ideen keineswegs problematisch sieht. Dazu fügt er aus:

„Sollten wir nicht endlich hinnehmen, was uns die Moderne gelehrt hat, und aufhören, uns nach irgendeiner Einigkeit zu sehnen? Gewiß, versuchen wir weiter, einander zu überzeugen. Aber geben wir die Vorstellung auf, daß solange wir damit nicht zum Ziel gekommen sind, es eine grundsätzliche Übereinstimmung geben muß, die all unserem Streit zugrunde liegt. Die gibt es nicht. Wir sollten lernen ohne sie auszukommen."

Doch selbst die Realisierbarkeit einer solchen Übereinstimmung erleben einige als bedrückend. Zunächst empfinden es viele als ungerecht, dass der Urzustand die Parteien ihrer kulturellen und identitätsbildenden Eigenschaften beraubt. Gerade Kommunitaristen können sich damit nicht anfreunden. Ihnen erscheint es unfair, weil gerade ihre Identität zu einem Verständnis von Gerechtigkeit führt. Diese soll aber bei der Wahl der Gerechtigkeitsprinzipien keine Rolle spielen.

Das ist allerdings gar nicht Rawls' Absicht. Vielmehr geht er davon aus, dass wir nach neuen Gerechtigkeitsprinzipien suchen, da unsere Identität aber durch unsere Kultur und Erfahrungen geprägt ist, müssen wir im Urzustand dieser beraubt werden, denn aus etwas Altem kann nichts Neues erwachsen. Trotzdem bleibt der Einwand, auch wenn Pogge gerade den Kommunitaristen eine Art Nostalgie nachsagt. Auf jeden Fall wäre eine solche Gesellschaft ärmer an konkurrierenden Werten.

Fraglich ist, ob sich dies zum Vorteil von pluralen Gesellschaften auswirken würde. Der kommunitaristischen Schule zugeordnete Philosoph Charles Taylor wehrt sich dagegen, „daß Erörterungen des guten Lebens an den Rand der politischen Auseinandersetzung verbannt werden" sollen. Die Idee, dass die Vernunft außerstande ist, über moralische Streitfragen zu befinden, und jeder nur eine moralische Vorstellung wählt, weil sie ihm beliebt, ist schwerlich akzeptabel. Gerade diesen moralischen Subjektivismus empfindet Taylor als unbehaglich an der Moderne. Damit ist er nicht alleine. Rawls ist sich zwar bewusst, dass seine Konzeption einige Opfer fordert, zugleich aber auch viel Gutes verspricht.

Eine etwas andere, aber interessante Kritik kommt von Joanne E. Tetlow. Sie argumentiert von einem christlichen Standpunkt aus und glaubt, dass eine liberale Ordnung nur auf einer vernünftigen umfassenden Lehre basieren kann, z.B. Lockes Naturrecht. Ungeachtet dessen, dass die liberale Tradition ganz stark mit dem christlichen Glauben zusammenhängt und somit schwerlich als neutral gelten kann, glaubt sie nicht, dass eine nur Institutionen regelnde Gerechtigkeit stabil ist. Tetlow kann sich nur schwer vorstellen, wie sie Argumente in der Öffentlichkeit loslösen soll von ihren tiefsten Überzeugungen. Sie erklärt es an einigen Beispielen. Eines soll angeführt werden:

„Under Rawls's political conception of justice, I would have a hard time making an argument against gay marriage without invoking a comprehensive doctrine, either the law of nature or Scripture. I do not see how it is politically beneficial to diminish my argument into a political conception of justice if my opinion is that gay marriage is morally wrong based on natural reason and Scripture. It seems under Rawls's political conception of justice, gay marriage is permissible, because of the priority of the right over the good which gives basic liberties unmitigated protection. The liberties of those individuals desiring a gay marriage would overrule other competing moral claims due to the priority of basic liberties in Rawls's theory."

Tetlow argumentiert zwar aus der Sichtweise einer umfassenden Lehre, nichtsdestotrotz ist der Einwand nachvollziehbar. Es ist schwer vorstellbar, wie ein Anhänger einer moralischen Lehre politisch argumentieren soll, wenn seine Überzeugungen doch gerade auf moralischen Abwägungen seiner vernünftigen Lehre basieren. Manche Argumente basieren beispielsweise nur auf Grundlage der Bibel. Wir kritisieren gesellschaftliche Missstände zumeist aus unserer moralischen Anschauung und nun dürfen sie nicht mehr artikuliert werden? Wie soll das möglich sein? Wie sollen solche Argumente politisch artikuliert werden?

Interessant an Rawls Konzeption ist zudem, dass, weder im Urzustand noch in der nach seinen Prinzipien wohlgeordneten Gesellschaft, ein Diskurs oder eine gemeinsame Überprüfung der gewählten Prinzipien erfolgt. Das ist hauptsächlich die Kritik des Philosophen Jürgen Habermas. Im Urzustand werden Bürger durch Parteien repräsentiert und in der Gesellschaft ist ein Diskurs zwischen vernünftigen Lehren dann ganz unterbunden. Nirgendwo treten die Bürger in einen Dialog. Der Urzustand dient also nur zur Stabilisierung Rawls' Prinzipien und nicht zu ihrer Überprüfung. Aber können wir dann von einem Konsens zwischen freien und gleichen Bürgern sprechen? Erfordert ein Konsens nicht vielmehr einen Diskurs freier und gleicher Bürger und somit Bürger die im Rahmen ihrer Identität zustimmen?

Die mehrheitliche Kritik zielt in die Richtung, dass Rawls einen Diskurs (und somit Streit) unterbinden will, und das obwohl die Weltanschauungen einer liberalen Ordnung durchaus vernünftig sind und somit auch diskurs- und lernfähig.

5. Vielleicht kein Konsens aber ein Schritt in die richtige Richtung (Schlussbetrachtung)

In seinem Hauptwerk „Eine Theorie der Gerechtigkeit" bemerkt Rawls, dass es zwei Tugenden des menschlichen Handelns gibt, die keinen Kompromiss dulden: Wahrheit und Gerechtigkeit. Dem kann nur beigepflichtet werden. Ebenso Augustinus, für den ein Staat ohne Gerechtigkeit einer Räuberbande gleicht. Uneinigkeit beginnt dort, wo der Inhalt genau bestimmt werden soll; auch Rawls' Antwort ist nicht endgültig.

Es wurde deutlich, dass sowohl Rawls' Ausgangsfrage als auch seine Antwort strittig sind. Ein vernünftiger Pluralismus wird bei Weitem nicht von allen als problematisch empfunden. Viele sehen gerade darin eine große Errungenschaft der Moderne; ganz gewiss keine Gefahr für die Stabilität.

Aber vielleicht tun viele Kritiker Rawls unrecht, denn auch er begrüßt die Vielfalt moderner Demokratien. Gleichzeitig fragt er sich, ob diese Vielfalt erhalten werden kann, wenn ihr nicht eine gemeinsame Gerechtigkeitsvorstellung zugrunde liegt. Wird nicht jede politische Ordnung delegitimiert aufgrund fehlender Gerechtigkeit? Rawls hat Recht, wenn er davon ausgeht, dass Gerechtigkeit ein Bindeglied ist, das eine Gemeinschaft zusammenhält.

Ottfried Höffe formuliert es noch deutlicher, wenn er sagt, dass Menschen einander gerechtes Handeln schulden. Gerechtigkeit ist etwas, das eingeklagt werden kann. Doch fehlt Demokratien wirklich eine gemeinsame Gerechtigkeitsvorstellung aufgrund unserer unterschiedlichen Wertvorstellungen? Wir sprechen ja über einen vernünftigen Pluralismus, also über unterschiedliche Strömungen mehr oder weniger liberaler Ideen, seien sie an Kant angelegt, an Locke, an die christliche Lehre, den gemäßigten Islam o.a. Unsere gemeinsame Basis ist gerade die Akzeptanz der Vielfalt, auch wenn natürlich jede Lehre bemüht ist, die Gesellschaft gemäß ihrer Überzeugung zu formen.

Rüdiger Bittner bringt es auf den Punkt, wenn er das Streben nach Einigkeit als ein vormodernes Bemühen abstempelt. Seltsamerweise ist Rawls der gleichen Ansicht, endet schließlich aber doch wieder in der Suche nach ihr. Zudem ist es ironisch, dass Rawls mit seiner Gerechtigkeit als Fairness auf einen Konsens hingearbeitet hat, letztlich aber eine breite Debatte und Kontroverse entzündete. Das braucht kein schlechtes Zeichen sein. Allerdings kann nicht übersehen werden, wie sehr Rawls von dem Bemühen geleitet war, eine realisierbare Konzeption vorzulegen. Er wollte eben nicht, dass seine Theorie nur in philosophischen Seminaren diskutiert wird, darüber hinaus aber keinen großen Einfluss auf die Gesellschaft hat. Gerechtigkeit duldet eben keinen Kompromiss oder in Höffes Worten:

„Die Gemeinwesen warten aber auf Ergebnisse, damit die Gerechtigkeit im Hier und Jetzt des realen Zusammenlebens und nicht im »ständigen Morgen und Übermorgen« potentieller Koexistenz ihre Bestimmungskraft entfaltet."

Von diesem Hier und Jetzt ist Rawls' Theorie beseelt. Vielleicht stimmt nicht jeder Rawls' Prinzipien zu, eine Wirkung haben sie trotzdem in der Gesellschaft entfaltet und vielleicht wird die Zeit eine breitere Akzeptanz mit sich bringen, ähnlich dem Konsens aus dem die liberale Idee entstanden ist. Denn was auch immer an Rawls' Entwurf kritisiert werden kann, eine überzeugende Alternative konnte bisher nicht vorgelegt werden, weder von Kommunitaristen noch von Libertianern.

Literatur 

Primärquellen

Rawls, John: Politischer Liberalismus, Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Frankfurt am Main 2003.

Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit, Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Frankfurt am Main 1979.

Sekundärquellen

Arneson, Richard J.: Justice after Rawls, in: John Dryzek and Anne Phillips (Hrsg.), Oxford Handbook of Political Theory, Oxford University Press, Oxford 2006.

Armstrong, Karen: The Battle for God. A History of Fundamentalism, Random House, 2001.

Hinsch, Wilfried (Hrsg.): Zur Idee des politischen Liberalismus. John Rawls in der Diskussion, Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Frankfurt am Main 1997.

Hobbes, Thomas: Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Frankfurt a.M. 1966.

Höffe, Otfried: Politische Gerechtigkeit. Grundlegung einer kritischen Philosophie von Recht und Staat, Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Erweiterte Neuauflage, Frankfurt am Main 1989.

Horn, Christoph / Scarano, Nico (Hrsg.): Philosophie der Gerechtigkeit. Texte von der Antike bis zur Gegenwart, Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Frankfurt am Main 2002.

Kersting, Wolfgang: John Rawls zur Einführung, Junus Verlag, Hamburg 2001.

Kersting, Wolfgang: Gerechtigkeit und öffentliche Vernunft. Über John Rawls„ politischen Liberalismus, Mentis Verlag, Paderborn 2006.

Pogge, Thomas W.: John Rawls, Beck‟sche Reihe Denker, München 1994.

Taylor, Charles: Das Unbehagen an der Moderne, Suhrkamp Taschen- buch Wissenschaft, Frankfurt am Main 1995.

Weber, Max: Politik als Beruf, Reclam, Stuttgart 1992.

Internetquellen

Herbel, Jerry: Rawls's Theory of Fairness and the Legitimization of Democratic Power.

Hughes, Thomas: The Unintentional Voluntarist Liberalism of John Rawls.

Johnson, Joel: Wild Justice: Revenge and the Limits of Political Liberalism.

Lamb, Peter: Innovative Political Philosophy in the Writings of Harold Laski and John Rawls.

McGann, Anthony: The Problem of Consensus in Habermas and Rawls: Rethinking the Basis of Deliberative Democracy.

Tetlow, Joanne: Rawls' Political Conception of Justice: Is it as Stable for Liberalism as Locke's Law of Nature?